Nachhaltiges NRW

Für Nachhaltigkeitsinteressierte war das Jahr 2012 ganz klar durch ein Großereignis geprägt: Ende Juni fand in Rio de Janeiro die “Rio+20”-Konferenz statt, die nichts Geringeres als die Zukunft der Nachhaltigkeit zum Thema hatte. Eben jener hohe Anspruch war es dann möglicherweise auch, der die Konferenz in den Augen vieler Nachhaltigkeitsakteure scheitern ließ und seitdem die Vermutung nährt, dass den Herausforderungen der Zukunft auf globaler Ebene vielleicht nicht beizukommen ist.

Vor diesem Hintergrund versammelten sich Politiker, Nachhaltigkeitsaktivist(inn)en und Interessierte aus ganz NRW am 21.11.2012 in Duisburg, um auf einer Fachtagung über “Wege in eine nachhaltige Zukunft” nachzudenken, die auf lokaler Ebene, in NRW nämlich, ansetzen.

Diese Perspektive betonte vor allem NRW-Umweltminister Johannes Remmel in seiner Eröffnungsrede, indem er zu verstehen gab, dass konkrete Beispiele und nicht Rhetorik gefragt seien, wenn es um die Zukunft der Nachhaltigkeit gehe. Um diese „konkreten Strategien vor Ort” (Remmel) sollte sich die Fachtagung drehen und um die Frage, wie dieser Erfahrungsschatz auch in Zukunft zusammengeführt und weiterentwickelt werden kann, wie es bisher zum Beispiel in der Lokalen Agenda 21 geschehen ist. Nicht nur für Remmel nimmt Nordrhein-Westfalen als das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland eine Beispiel- und Scharnierposition ein: “Wenn wir es hier nicht schaffen, dann werden wir die nationalen Ziele nicht erreichen und die europäischen schon gar nicht.” Aus diesem Grund sei es äußerst wichtig, so Remmel, dass zukünftige Nachhaltigkeitsstrategien – in NRW, aber auch auf globaler Ebene – zuvorderst als Gemeinschaftsaufgabe verstanden würden.

Für die Zukunft der Nachhaltigkeit in NRW macht Remmel abschließend vier Themenkreise als zentral aus, die in den folgenden Vorträgen und vor allem den nachmittäglichen Workshops wieder aufgegriffen werden: Neben der erwähnten Lokalen Agenda sind dies vor allem Schlagworte wie “Green Economy”, Klimaschutz und “Bildung für nachhaltige Entwicklung”.

Remmel beschließt seinen Vortrag mit einer kleinen Überraschung und ehrt den Vorsitzenden der Stiftung Umwelt und Entwicklung, Karl Lamers, vor allen Anwesenden für sein langjähriges Engagement. Auch Lamers betont in seiner Dankesrede, dass Kooperation und Vernetzung für eine nachhaltige Zukunft von zentraler Wichtigkeit sein: “Wir müssen uns verständigen”, sagt er, denn anders seien die existenziellen Herausforderungen von heute und morgen nicht zu lösen.

Einen ersten konkreten Bezug auf “Rio+20” nimmt im Anschluss Dr. Reinhard Loske, der in seinem Vortrag ein Resümee zum Nachhaltigkeitsgipfel zieht und sich kritisch mit der Frage des Wachstums auseinandersetzt. Dessen Beschleunigung macht er als Signatur unserer Zeit aus, die sich als “Great Acceleration” beschreiben lässt. Anders als ursprünglich gedacht, geht der damit einhergehende steigende Reichtum jedoch nicht mit erhöhten Ausgaben für z. B. Umweltschutz und folglich verbesserten Nachhaltigkeitswerten einher – ein Befund, der Loske und andere zu dem Schluss führt, dass sich die Lage seit dem ersten Umweltgipfel im Jahre 1992 in allen relevanten Bereichen verschlechtert hat. Zwar sei das Wissen um Nachhaltigkeitszusammenhänge in den letzten 20 Jahren enorm angestiegen – die Übersetzung in konkrete Handlungen bleibe jedoch nach wie vor aus.

Als vermeintliche Lösung dieser Problematik wird seit geraumer Zeit die sogenannte “Green Economy” oder das “nachhaltige Wachstum” gehandelt, das die UNEP folgendermaßen definiert:

A green economy is “one that results in improved human well-being and social equity, while significantly reducing environmental risks and ecological scarcities. In its simplest expression, a green economy can be thought of as one which is low carbon, resource efficient and socially inclusive”.
[http://www.unep.org/greeneconomy/AboutGEI/WhatisGEI/tabid/29784/Default.aspx]

Während die Verquickung von Wachstum und Nachhaltigkeit vielen als “neue Zauberformel” erscheint, durch die sich zugleich der allgemeine Lebensstandard halten oder gar verbessern und die Umwelt schützen lässt, mehrt sich auch die Kritik an diesem Entwurf: Neben Problematisierungen aus Perspektive der Entwicklungsländer und der Anhänger der Commons-Idee treten vor allem jene Kritiker auf den Plan, die die Wachstumsideologie als solche in Frage stellen und auf einen Wandel der Lebensstile und Einstellungen pochen.

Zu ihnen gehört auch Loske, der im Folgenden betont, dass der technologische Wandel allein für die Zukunft nicht ausreicht, er müsse von sozio-kulturellen Verschiebungen begleitet sein, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen: Von zentraler Wichtigkeit sind laut Loske der Kulturwandel und die Förderung sozialer Innovationen wie Transition Towns, Tauschringe, Commons etc. Laut Loske haben diese Kulturformen ein ähnliches transformatives Potential wie z. B. technologische Innovationen, denn sie sorgen für den so dringend notwendigen Einstellungswandel. Indem sie immaterielle Werte und eine neue Anerkennungskultur fördern, tragen sie zur Eindämmung von Konsumismus und Gier-Mentalitäten bei, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur (tagtäglichen) Ressourcenverschwendung leisten.

Damit einhergehen müsse ein Wandel der Lebensstile, der zum Beispiel beim persönlichen Fleischkonsum ansetzt.

Neben diesen Transformationen auf der mentalen und persönlichen Ebene gehe es jedoch auch um Veränderungen im Rahmen international agierender Institutionen: Das Völkerrecht funktioniere als Verständigungsebene für Nachhaltigkeitsbelange nicht, so Loske, weshalb man hier niedrigschwelliger ansetzen müssen – auch hier also ein Plädoyer für stärker lokal basierte Arbeit.

Als letztes wichtiges Stichwort wirft Loske das Thema Resilienz in die Runde, verstanden als die Fähigkeit komplexer Systeme, mit Störungen umzugehen. Loske betont, dass es das Konzept der Resilienz – vielleicht im Sinn einer neuen Kulturtechnik? – in Zukunft auszubauen gelte, vor allem im Bereich der Nachhaltigkeit, etwa indem der Fokus sich von Veränderung auf Anpassung verschiebt.

Eine passende Ergänzung zu Loskes Vortrag bietet etwas später Michael Müller, der nach eigenen Aussagen die “Idee der Nachhaltigkeit aus Sicht der Natur- und Umweltschutzverbände” beleuchten will. Dabei kommt er in Anlehnung an Antonio Stoppanis Konzept des Anthropozän zu ähnlichen Schlüssen wie Loske: Das “Modell der Moderne”, das auf Linearität, Fortschritt und beständiges Wachstum ausgerichtet sei, funktioniert auch in den Augen Müllers nicht mehr. Der klassische Fortschrittsbegriff, der vor allem auf wirtschaftliche und technologische Weiterentwicklung ausgerichtet ist, habe ausgedient und müsse durch einen neuen ersetzt werden, der die Naturvergessenheit der Moderne korrigiere im Sinne einer “Rückkehr der Natur in die Gesellschaft” korrigiert, so Müller. Dies verlange auch einen neuen Blick auf technologische Transformationen, die nicht länger als Ziel, sondern als Instrument für weitergreifende Veränderungen verstanden werden müssten. Ähnlich wie Loske fordert auch Müller abschließend eine neue Kultur, die z. B. statt der Umwelt die Mitwelt im Blick hat und sich vor allem durch Gestaltungsfähigkeit auszeichnet: “Demokratie muss gestalten, damit Krisen nicht eintreten.”

Diese sehr grundsätzlichen Fragen tauchen auch in der Abschlussdiskussion zwischen den Vertretern der Fraktionen im Landtag NRW wieder auf, in der insbesondere der Grünen-Abgeordnete Hans Christian Markert und der PIRATEN-Vertreter Hans-Jörg Rohwedder einen sozialen Wandel einfordern, der zum Beispiel Modelle der Teilhabe stärkt, so Markert. Ähnlich wie jüngst die Heinrich-Böll-Stiftung in ihrer Studie “Nutzen statt Besitzen” plädiert auch Markert für eine Überarbeitung des klassischen Eigentumsbegriffs. Unter dem Motto “Gemeinnutz vor Eigennutz” fordert Rohwedder außerdem eine stärker solidarische Sozialpolitik, die – dem Tenor des Plenums entsprechend – von unten nach oben und also auch von lokal hin zu global funktioniert.

Zu den Teilnehmern des ersten Plenums gehörten außerdem Dr. Wolfgang Große Entrup (Bayer AG), Olaf Tschimke (Rat für nachhaltige Entwicklung, NABU) und Rainer Deppe (CDU). Details zu ihren Beiträgen finden sich demnächst in der Veranstaltungsdokumentation (LINKE). Hinweise zu allen Referenten finden sich hier.

Wie vielschichtig ein solcher lokaler, praxisnaher Ansatz aussehen kann, zeigt sich während und nach der Mittagspause an mehreren Beispielen: Nicht nur die Aussteller/-innen auf dem “Markt der Möglichkeiten”, der Nachhaltigkeitsinitiativen aus ganz NRW versammelt (viele von ihnen aus dem Netzwerk von NRW denkt nach(haltig)), zeigen, wie Nachhaltigkeit in NRW gelebt wird: Auch Bernd Tischler, Oberbürgermeister der Stadt Bottrop, verdeutlicht mit dem Innovation City-Konzept, dass in NRW Exportmodelle für Nachhaltigkeit entwickelt werden. Zwei Faktoren waren und sind laut Tischler entscheidend für das Gelingen der Innovation City Bottrop mit ihren zahlreichen Maßnahmen und Projekten zum Klimaschutz: Zum einen setzten die Initiatoren von Beginn an auf eine möglichst weitreichende Einbindung der Bevölkerung in die Transformationsmaßnahmen, in dem z. B. Hausbesuche veranlasst, Beratungszentren eingerichtet und ein Info-Truck aufgestellt wurde. Ausgangspunkt aller Maßnahmen war zudem die Konzentration auf ein Quartier, das rund 70.000 Einwohner umfasst(e). Neben dieser Verankerung in der Bevölkerung zeichnet sich das Innovation City-Projekt laut Tischler außerdem durch seine gute Vernetzung mit Partnern in der Industrie, der Politik und den Hochschulen aus. Neben Know-How und Infrastrukturleistungen bringen vor allem die Kontakte in die Wirtschaft das nötige Geld ein, das für die umfangreichen Maßnahmen nötig ist.

Einen anderen Ort für die Erprobung praxisnaher, lokaler Konzepte stellt seit Neuestem die „BnE-Agentur“ dar, die die Besucher/-innen in der folgenden Workshop-Phase näher kennenlernen können. Wie der Name bereits vermuten lässt, handelt es sich bei der im Umweltministerium angesiedelten Agentur um eine Institution zur Umsetzung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Die „BnE-Agentur“ stellt ein Kooperationsprojekt zwischen unterschiedlichen Ministerien (Ministerium für Klima, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen, Schulministerium, Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien in der Staatskanzlei) und der Stiftung für Umwelt und Entwicklung dar, das als Nachfolgeprojekt des Forums „Aktion Zukunft lernen“ verstanden werden kann. Unter der Leitung des Umweltministeriums besteht die Hauptaufgabe der Agentur bis 2014 in der Erarbeitung einer Landesstrategie zur Verankerung und Implementierung der BNE. Darüber hinaus schließt das Portfolio der Agentur auch die Begleitung von Leitprojekten der BNE (beispielsweise Schule der Zukunft, aber auch Maßnahmen der Verbraucherbildung), den Transfer guter Beispiele, Netzwerkarbeit, Öffentlichkeitsarbeit für die UN-Dekade und die Unterstützung von ExpertInnengruppen mit ein.

Damit die Workshop-Teilnehmer/-innen ein konkreteres Bild von der Arbeit der Agentur erhalten, geht es in der zweiten Workshop-Hälfte in einen „open space“, in dem an vier Stellwänden Impulse zur systematischen Verankerung und Implementierung der BNE in unterschiedlichen Bildungsbereichen (Schulen, Hochschulen, berufliche Bildung, etc.) erarbeitet werden sollen – hier ist vor allem das Know-How und Engagement der Teilnehmer/-innen gefragt, die sich bei dieser Aufgabe zudem schon einmal ein wenig kennen lernen und vernetzen können.

Nach den Workshops folgt eine zweite und abschließende Panelphase, in der u.a. Schulministerin Sylvia Löhrmann über Nachhaltigkeit als „Bildungsaufgabe“ spricht und betont, dass Nachhaltigkeit „keine Bürde“ sei, sondern „eine Chance“, wenn nicht gar „eine Freude“ sei.

Diesen Ton greift auch der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr Michael Groschek auf, der Nachhaltigkeit als Gemeinschaftsprojekt sieht, das (auch) Spaß machen müsse.

Für ihn ist Stadtentwicklung nur als soziales Projekt denkbar, das Sicherheit und Orientierung schafft. Ähnlich wie viele seiner Vorredner plädiert auch Groschek für einen kleinteiligeren Ansatz, der im Stadtteil ansetzt und die Bürger/-innen aktiv einbezieht – nur so könne die Stadt zu einem „demokratischen Raum“ werden, „der Sicherheit bietet“. Darüber hinaus spricht sich Groschek auch in der Stadtentwicklung für Modelle der Teilhabe aus, die eine Integration des Nachhaltigkeitsgedankens in den Alltag erlauben, und also am Übergang von Wissen in Handeln stehen, an dem es auch laut Groschek noch hapert.

Eher theoretisch wird es in der Folge, denn zur Diskussion von Nachhaltigkeitsstrategien und der Eine-Welt-Strategie NRW haben sich Dr. Lale Akgün aus der Staatskanzlei, Andreas Esche von der Bertelsmann Stiftung und Dr. Hermann Ott aus dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit eingefunden.

Auch diese Runde betont erneut, wie wichtig lokale Pionierprojekte für die Gestaltung des Übergangs von Wissen in Handeln sind – gerade vor dem Hintergrund der ernüchternden Ergebnisse des Rio-Gipfels, der die Grenzen der globalen Zusammenarbeit erneut hat sichtbar werden lassen. NRW habe hier in dieser Hinsicht allerdings eine starke Tradition, wie Akgün betont, weshalb es ein so passender Ort für die Gestaltung einer Eine-Welt-Strategie sei – frei nach dem von ihr etwas abgewandelten Motto “lokal denken, global handeln”. Deshalb gehe es bei der Eine-Welt-Strategie in ihrem partizipativen Zuschnitt auch wesentlich darum, auf vorhandene Stärken zu bauen und Kompetenzen zu bündeln.

Der Übergang von Wissen in Handeln funktioniert aber längst nicht überall so gut, wie Dr. Ott betont, weshalb er für die Einführung von Druckmitteln plädiert, mit denen Nachhaltigkeitsinstitutionen ihre Vorstellungen durchsetzen oder bestimmte Prozesse blockieren können, wenn diese nicht im Sinne der Nachhaltigkeit sind – nur so könne Nachhaltigkeit auch auf Ebene der Gesetzgebung langfristig verankert werden.

Damit ist es jedoch noch längst nicht getan, wie Akgün betont: Nachhaltigkeit müsse ebenso zum Mainstream-Thema werden, ein Brückenschlag zwischen offizieller Politik und Bürgergesellschaft sei heute notwendiger denn je, wenn es um das Ineinander von Wissen und Handeln geht.

Dafür ist aber auch jener Kultuwandel nötig, der am heutigen Tag bereits von Reinhart Loske eingefordert wurde, wie Andreas Esche aufzeigt – in Zukunft werde eine Politik und Lebenseinstellung der “freiwilligen Selbstbeschränkung” immer notwendiger, die in der Maxime gipfelt, dass wir “nicht alles tun, was wir tun können”, so Esche.

Die Ergebnisse dieses inhaltsreichen Tages kommentiert zum Abschluss noch einmal Udo Paschedag, Staatssekretär im Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz. Er fügt den Diskussionen des heutigen Tages zudem eine weitere Komponente hinzu, indem er betont, dass Nachhaltigkeitsarbeit auch friedenspolitische Aspekte in sich trägt, wenn sie beispielsweise zur Verhinderung von Umweltkonflikten beiträgt.

Zuversicht zieht Paschedag nicht zuletzt aus dem Konzept der BNE, das auf die Kinder von heute als unser aller Zukunftschance setzt.

Weitere Hinweise zur Veranstaltung finden sich hier.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.