„Wir haben mit der Aktion Menschen kennen gelernt und können nun anderen ihre Geschichten über das Medium Großplakat erzählen.“ Martin Haussmann, im Gespräch über #ourstories und die Methode des Graphic Recordings

Unter dem Motto #ourstories haben Graphic Recorder der bikablo® akademie in Kooperation mit der Flüchtlingsinitiative „Willkommen in Agnes“ die Geschichten von Flucht und Neuanfang gesammelt, die Flüchtlinge im Kölner Agnesviertel zu erzählen haben. Sichtbar und lesbar sind die Geschichten als große Plakate rund um die Kölner Agneskirche. Martin Haussmann, Geschäftsführer der bikablo® akademie, der die Aktion mit initiiert hat, erklärt im Gespräch mit NRW denkt nach(haltig) die Hintergründe und Ideen von #ourstories und stellt die Methode des „Graphic Recordings“ als Kommunikationsmittel vor.

Martin Haussmann, Geschäftsführer der bikablo® akademie und Mitinitiator der Aktion #ourstories

Martin Haussmann, Geschäftsführer der bikablo® akademie und Mitinitiator der Aktion #ourstories Foto: Marcela Traber


Wie kam es zur Idee der Aktion #ourstories und mit welchen Zielen ist sie verbunden?
Da kamen zwei Ideen zusammen. Die erste Idee ist, dass unser Team bei der bikablo® akademie, deren Geschäftsführer ich bin, sich gestalterisch weiterentwickeln wollte und wir unsere Arbeit auch in den gesellschaftlichen Bereich tragen wollte. Wir bringen Menschen das Visualisieren bei, auch Leuten, die nichts mit Grafikdesign zu tun haben; einige unsere Trainer kommen selbst aus ganz anderen Bereichen. Im Engagement für Flüchtlinge sahen wir die Möglichkeit gemeinsam ein Projekt zu machen, das über unsere normale Arbeit hinaus geht. Ein paar Häuser weiter von mir ist die Agneskirche mit ihrem Engagement für Flüchtlinge, das unter anderen von Klaus Nelißen initiiert wurde. Dort kam die Idee auf, die Plakate für die Kölner OB-Wahl nach dem Wahltermin für eine Aktion der Öffentlichkeitsarbeit für Flüchtlinge weiter zu verwenden. Einzelne Parteien hatten dafür schon ihr OK gegeben. So hatten wir auf der einen Seite unsere Methode des Visualisierens und auf der anderen Seite das Angebot das Massenmedium Plakatwand zu nutzen. Von der Idee beides zusammen zu bringen, waren alle schnell begeistert.

Wir hatten sehr viel Glück, weil die Agnesgemeinde sehr gut vernetzt ist und wir somit viele Leute hatten, die professionell in der Öffentlichkeitsarbeit tätig sind. So hat uns eine Bloggerin aus der Nachbarschaft z.B. ein Extra Aktionsblog aufgesetzt. Andere haben mit Fotos und Videos sehr professionell unsere Arbeit dokumentiert. Diese Leute zu haben, war ein Erfolgsfaktor unserer Aktion: Sehr viele Talente kamen zusammen mit einem gemeinsamen Ziel.

Da die Wahl ja verschoben wurde, haben wir jetzt Plakate, die uns von einer Firma zu sehr fairen Konditionen zur Verfügung gestellt wurden. Da haben wir sogar Glück, denn nun können wir unsere Plakate rund um die Agneskirche ausstellen und zwar noch bis zum 8. Oktober 2015, denn die Stadt fand unsere Initiative so gut, dass sie die Genehmigung noch einmal verlängert hat. Danach sind die Plakate aber nicht verloren, denn wir haben sie mit hochauflösenden Fotos dokumentiert, die auch reproduziert werden können und dürfen. Alle Plakate stehen unter einer Creative Commons Lizenz, die die Weiterverbreitung unter Namensnennung erlaubt (CC-BY-ND). So können die Geschichten weiter getragen werden. Der Caritas-Verband überlegt z.B. die Plakate auch in anderen Kirchengemeinden auszustellen und die Geschichten so weiter leben zu lassen.

Wie funktionierte der Austausch mit den Protagonisten Ihres Projektes? Wen haben Sie kennen gelernt? Und was haben Sie aus den Gesprächen mitgenommen?
Wir sind da am Anfang ein bisschen naiv dran gegangen und ich glaube, das ist das Problem vieler Initiativen, die zurzeit entstehen. Da machen sich Menschen mit guten Willen Gedanken über Menschen, die sie nicht kennen. Auch bei uns waren keine Leute mit Fluchterfahrungen in der Aktionsgruppe. Erst einmal war es ziemlich schwierig Kontakte herzustellen. Jedem, der so eine Aktion plant empfehle ich deshalb, viel Zeit in die Beziehungsarbeit mit den Menschen zu investieren. Die Leute sind oft sehr zurückhaltend. Ein Paar aus Indien wollte z.B. nicht namentlich genannt werden, denn sie sind aus religiösen Gründen geflohen und fühlen sich immer noch von ihren Familien bedroht.

Zeichnen ist da ein sehr gutes Medium, weil wir ja nicht fotografieren oder Filmen und damit die Menschen nicht direkt abbilden. Das war sehr wichtig, um das Vertrauen der Leute zu bekommen. Auch war hilfreich, dass die Kontakte sehr persönlich über die Aktionsgruppe „Willkommen in Agnes“ zu Stande kamen. Man kann nicht einfach in ein Flüchtlingsheim rein rufen: „Wer macht mit?“ Auch erzählen die Flüchtlinge nicht automatisch gerne was sie erlebt haben. Beim nächsten Mal würde ich mir mehr Zeit wünschen, um die Leute kennen zu lernen und um die Plakate mit den Protagonisten gemeinsam zu entwickeln. Den jungen Eritreer mit dem ich gesprochen habe,  treffe ich nun öfter. Unsere Söhne sind gleich alt. Wir haben mit der Aktion Menschen kennen gelernt und können nun anderen ihre Geschichten über das Medium Großplakat erzählen. Das Wesentliche aber ist nicht die Öffentlichkeitsarbeit sondern die Begegnung, das Kennenlernen der Menschen.

Plakat aus dem Projekt #ourstories CC-BY-ND Wibke Ladwig Visualisierung: Martin Haussmann

Plakat aus dem Projekt #ourstories

CC-BY-ND Wibke Ladwig Visualisierung: Martin Haussmann

Welche Reaktionen bekommen Sie auf die Plakate und wie geht es weiter?
Es ist noch nichts Konkretes geplant, wie es weiter geht, aber wir haben heraus gefunden, dass jeder mit dieser Methode ein Plakat machen kann. Ich fände prima, wenn sich Leute vorstellen können, selbst solche Projekte zu starten. Da braucht man weniger zeichnerisches Talent als vermutet. Ich gebe da auch sehr gerne Tipps und werde bald auch unsere Erfahrungen dokumentieren und das Wissen teilen, um den Leuten Mut zu machen, selber los zu legen. Unsere Methode funktioniert und hat eine Wirkung, die man mit anderen Medien nicht erreichen kann. Wenn ich dieser Tage an der Agneskirche vorbei komme, sehe ich Leute, die sich mit jedem einzelnen Plakat beschäftigen. Sie nehmen die Inhalte anders auf, als eine Geschichte, die sie in der Zeitung lesen.

Das Graphic Recording ist ja eine Form der Übersetzungsarbeit von Sprache in Bilder und Text. Können Sie erklären, wie dieser Prozess vor sich geht?
Normalerweise wird Graphic Recording bei Konferenzen oder Workshops mit 60 bis einigen hundert Menschen durchgeführt. Ein Graphic Recorder ist während der Veranstaltung dabei und zeichnet auf, was passiert. Vor allem ist die Methode sinnvoll, wenn sich nicht einfach Powerpoint-Vorträge aneinander reihen, sondern z.B. bei Veranstaltungen, auf denen mehrere Workshops gleichzeitig stattfinden, deren Ergebnisse man hinterher austauschen möchte. Der Graphic Recorder hat die Aufgabe, die wichtigsten Erkenntnisse festzuhalten und so aufzunehmen, dass man am Ende sagen kann: Das ist das Ergebnis unserer Arbeit. Das alles geschieht in Echtzeit. Das heißt, am Ende der Veranstaltung ist auch die Aufzeichnung durch den Graphic Recorder fertig. Deshalb würde ich bei unserer Plakataktion auch nicht von Graphic Recording im engeren Sinne sprechen, sondern eher von „Visual Storytelling“.

Was leistet Graphic Recording und für welche Themen, Zielgruppen und Situationen eignet sich die Methode besonders?
Graphic Recording ist in den 70er und 80er Jahren an der amerikanischen Westküste entwickelt worden, vor allem im Zuge von bürgerschaftlicher, partizipativer Initiativen. Es unterstützt selbstorganisierte Gruppenarbeit, in der partizipativ und gleichberechtigt zusammengearbeitet wird, auch wenn ganz viele im Raum sind. Graphic Recording eignet sich also gut für Beteiligungsverfahren, wenn z.B. Leute aus einem Viertel gemeinsam versuchen, einen Zukunftsdialog für ihren Ort zu starten. Die Ideen der vielen Leute kann man graphisch gut festhalten, denn in einem normalen Protokoll geht die Lebendigkeit im Dialog und das Prozesshafte verloren. Auf Plakatwänden zusammengefasst, wird hingegen Wissen für andere sichtbar: Dadurch, dass die Bilder simultan zur Diskussion entstehen und die Leute den Prozess mitverfolgen können, wird für sie z.B. deutlich, dass ihr Beitrag aufgenommen wurde. Wenn man sich das Bild anschaut, wird auch klar wo etwas fehlt. Graphic Recording ist damit auch ein Reflexionstool. Das Verfahren folgt der Idee des emergenten Wissens: Wenn Menschen in einem sicheren, wertschätzenden Dialograum authentisch miteinander sprechen, ergeben sich die Lösungen von selbst.

Hat Sie der Übersetzungsprozess der Geschichten der Flüchtlinge vor besondere Herausforderungen gestellt im Vergleich zu Ihrer sonstigen Arbeit?
Im Fall von #ourstories haben wir eher „Visual Storytelling“ gemacht, aber das aufbauend auf unserer Arbeit mit Text und Bild. Entstanden sind Bildergeschichten in verschiedenen Ausprägungen. Auf manchen Plakaten ist nur ein großes Bild und ein Text zu sehen; auf anderen sieht man einen Verlauf von mehreren kleinen Bildern und Texten. Man muss dazu sagen, dass unsere Methode kein so neutrales Medium wie z.B. das Fotografieren ist. Man muss natürlich sehr stark kürzen und eine Auswahl treffen, damit ein Betrachter in ein paar Minuten die Geschichte erfassen kann. Die Plakate sind sehr unterschiedlich geworden, weil die Visualisierer, Geschichten und Protagonisten sehr unterschiedlich sind.

Wir haben uns mit den Protagonisten getroffen und mit ihnen Gespräche geführt. Dabei haben wir sie nicht nach einem festgelegten Fragenkatalog interviewt, sondern wir haben sie erzählen lassen. Manche wollten zum Beispiel darüber sprechen, warum sie hier hergekommen sind oder welche Träume sie haben, aber nicht unbedingt über den Weg ihrer Flucht. So gibt es auch Leerstellen, Dinge, die nicht erzählt wurden. Ich habe die Geschichte des jungen Eritreers, mit dem ich gesprochen habe, zum Beispiel auf einer Landkarte eingezeichnet, die über Äthiopien, den Sudan, Libyen und Italien nach Deutschland führt, weil wir vor allem über seine Reise gesprochen haben.

Anstatt live mitzuzeichnen, haben wir bei den Gesprächen Skizzen gemacht und im Team später die Visualisierungen besprochen. Mit einem Beamer haben wir die Entwürfe dann, in der Agneskirche, auf die großen Plakatflächen projiziert und durchgepaust. Das war rationalisierter, denn man konnte dann auch gemeinsam an einem Plakat arbeiten. Dennoch sind alle Plakate ganz individuell gestaltet. Am Schluss haben wir alles mit Klarlack bearbeitet und die Plakate um die Kirche aufgestellt und da stehen sie jetzt – noch bis 8. Oktober.

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